Geschichte - Gegenwart - <-- gulag-online --> Bouldern und Clean Climbing im Elbsandstein

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Gegenwart

Die Frage nach der Weiterentwicklung des Elbsandsteinkletterns stellt sich derzeit in einer Schärfe dar, die historisch noch nicht dagewesen ist: Wenn alles sich ändert, kann dann die sächsische Tradition bleiben wie sie ist? Die vielen, die im Elbsandsteingebirge seit Jahr und Tag klettern und in der Tradition leben, werden fragen: »Warum nicht? « Doch das Regelwerk beinhaltet - definitionsgemäß - Einschränkungen, und diese stoßen nicht bei allen Kletterern auf Gegenliebe. Das beginnt bei manchem schon mit einer prinzipiellen Ablehnung regelhafter Vorschriften: »Ein Gebiet, wo man mir vorschreibt, was ich zu tun und zu lassen habe, interessiert mich nicht! « Dieses und ähnliches kann man zu hören bekommen, wenn man auswärtige Kletterer auf das Elbsandsteingebirge anspricht.
Häufiger ist jedoch Unmut gegenüber einzelnen Regeln: Angewiesen auf Knotenschlingen könne man, wenn man sich nicht genau auskennt, in haarsträubende Situationen geraten; ohne Magnesia könne man schwierige Routen nur bei trockenen Wetterlagen im Frühling oder Herbst klettern etc. Kletterer, die an Rotpunkt- und Onsight- Begehungen interessiert sind, beklagen sich darüber, dass die Wege oft schlecht für einen Durchstieg in einem Zug eingerichtet seien, da Ringe manchmal schwer einzuhängen sind und schwer zu legende Knotenschlingen einen Durchstiegsversuch schnell vereiteln. Potentielle Erstbegeher sehen sich - je nach Naturell - eingeschränkt durch die  Beschränkung auf Gipfel, die vorgeschriebenen Ringabstände, das Skyhook-Verbot und das Verbot, von oben einzurichten.
(Skyhook - Verwendung ist jetzt erlaubt wurde aber schon ca.20 Jahre illegal benutzt)*
Die fehlende Freizügigkeit vor der Wende hat dieses Konfliktpotential kaschiert, doch jetzt treten die Konsequenzen zutage: Talentierte Elbsandsteinkletterer suchen ihre Ziele in anderen Klettergebieten, die Entwicklung des Elbsandsteinkletterns stagniert.
Obwohl das Elbsandsteingebirge über Europa hinaus eines der besten Klettergebiete der Welt ist, bleibt das Interesse der westdeutschen und - europäischen Klettererscharen aus.
Spitzenkletterer, die ja sonst kein Kletterschmankerl der Erde verschmähen, finden nur sehr vereinzelt den Weg nach Sachsen. All diesen Gruppen könnte man entgegnen: »Na und? Sind das Gründe, etwas zu ändern? Schließlich ist das Elbsandsteinklettern als Bergsteigen anzusehen, und es hatte schon immer mehr mit Abenteuer zu tun als nur mit Kraft und Gymnastik! Doch was bedeutet eine solche Haltung in der Konsequenz?
Um ein drastisches Bild zu zeichnen: Es besteht die Gefahr, dass das Klettern in einem der weltbesten Gebiete zu einem Geschehen am Rande der Klettererwelt wird. Routen, deren klingende Namen vor einigen Jahren auch jeder westdeutsche Kletterer kannte, sind dann nur noch "Locals" und wenigen Besuchern geläufig; Wege, die - jeder in seiner Zeit- Marksteine des Kletterns gewesen sind, dämmern vor sich hin ... Was ist Klettergeschichte, wenn sie nicht von den jetzt kletternden Menschen nachvollzogen wird? Zwar hat sich das Augenmerk der Klettererwelt bereits in den achtziger Jahren vom Elbsandsteingebirge weggewendet, als in den westeuropäischen Gebieten die Schwierigkeitsmarken höher und höher gesetzt wurden, doch mit der jetzigen Freizügigkeit könnte das Elbsandsteingebirge eine Renaissance erleben.
Was braucht es dazu?
Die Antwort ist einfach: Rotpunktfreundliche Wege in hohen Schwierigkeitsgraden ziehen Spitzenkletterer an, sicherungsfreundliche Wege mittlerer Schwierigkeit die Genuss- und Freizeitkletterer.
Die Voraussetzungen stimmen ebenfalls: Wege, die diesen Kriterien entsprechen, gibt es; und das Potential, um mehr solcher Weg zu eröffnen, ist vorhanden.
Doch kann dann noch von sächsischer Tradition gesprochen werden?

Was ist Tradition? Überlieferung, Herkommen, Brauch, Gewohnheit.
Ist nicht das nachtrauern der Asche, sondern das weiterreichen des Feuers.
Sportliche Leistungen sollten deshalb nie völlig losgelöst von denen der Altvorderen betrachtet werden.*

Bei vielen Sachsen sehe ich die Furcht: »Wenn wir nur ein Jota nachgeben, dann ist das Sächsische Bergsteigen erledigt, dann gibt es Ringe im Meterabstand, dann sind die Felsen bald weiß gepudert von Magnesia, dann ... .
Auch scheinen die Besonderheiten und die Geschichte des sächsischen Kletterns wesentlicher Bestandteil des Selbstbewußtseins manchen Kletterers zu sein: Egal in welchem Schwierigkeitsgrad man sich bewegt, allein die Tatsache, dass man Elbsandsteinkletterer ist, hebt einen aus der Masse der Kletterer hervor.
Änderungen der Tradition setzen bei dieser Einstellung die eigene Identität auf's Spiel. Der historische Kredit, auf den man sich zu stützen weiß, mag auch zu Umgangsformen bei Konflikten führen, die anderswo so nicht ausgetragen würden: Unschöne und unwürdige Szenen können sich abspielen, wenn jemand beim Gebrauch von Magnesia erwischt wird, und die Nacht-und-Nebel­Aktionen, bei denen ungeliebte Ösen aus Wegen entfernt werden, sprechen für sich.
Von außen betrachtet, erscheinen viele solcher Reaktionen als übertrieben, und man wundert sich, warum das Rückgrat einer hundertjährigen Klettergeschichte bei einem Spielfeld von 14 000 Wegen nicht zu mehr Gelassenheit in diesen Fragen führt.
Ich kann nicht sehen, wie die sächsische Tradition untergehen könnte, solange die bestehenden Wege unangetastet bleiben und das bisher verwendete Sicherungsmaterial beibehalten wird: Hier stellen sich Abenteuer, für die ein Kletterleben nie ausreicht! Aber auch ein vereinzeltes nachträgliches Absichern bestehender Wege würde die Tradition nicht töten, sondern im Gegenteil lebendig machen: Denn was bleibt von einem Weg, der nicht beklettert wird?
Die Leistung des Erstbegehers weiß auch der zu schätzen, der einen nachträglich geschlagenen Ring einhängen kann. Außerdem glaube ich, dass ein Vertrauensvorschuss in andere (junge, auswärtige etc.) Kletterer auf lange Sicht nicht unbedingt enttäuscht würde: Das Pendel, das jetzt in Richtung gut abgesicherter Sportkletterrouten ausschlagen mag, wird auch wieder zurückpendeln - und, wer weiß, vielleicht existieren in ein paar Jahren gut abgesicherte Sportkletterwege und Abenteuerwege friedlich nebeneinander? Es gibt Gebiete z. B. in England, den USA), die diesen Kompromiss bereits verwirklicht haben, ohne dass den klassischen Linien ihre Eigenständigkeit oder ihr Nimbus geraubt worden wäre. Bleibt die Frage nach dem Stil der Erstbegehungen.
Ohne Zweifel: Die sächsische Tradition hat sowohl einzigartige Kletterwege hervorgebracht als auch dazu beigetragen, dass heute noch viel Felspotential vorhanden ist. Mit diesem Kapitel muss sorgsam umgegangen werden.
Heute ist der Rotpunkt-Gedanke etabliert, und On-sight-Begehungen sind die Herausforderung für die Kletterer.
Beides kommt auch der Grundidee der sächsischen Tradition, der Idee des Freikletterns, am nächsten.
Vor diesem Hintergrund ist schwer einzusehen, was Ringabstände mit Freiklettern zu tun haben.
Vielmehr beinhaltet diese Regel lediglich einen Nebenaspekt: Der Weg soll nicht technisch geklettert werden können.
Definition Freiklettern: Zur Überwindung der Schwerkraft beim Klettern werden allein die vom Fels gegebenen, natürlichen Haltepunkte, wie Griffe, Tritte, Risse etc., verwendet.
Benutzt man irgendwelche, künstliche Mittel, wie Seil, Haken oder Klemmkeile, zur aktiven Fortbewegung oder auch nur zum Ausruhen, so hat man von künstlicher Kletterei zu sprechen (Sportklettern heute, Güllich und Kubin).

Wäre ein Kletterweg erst dann ein Weg (und nicht lediglich ein Projekt), wenn die Begehung im Rotpunkt-Stil erfolgt ist, dann hätte das natürlich Veränderungen im Erstbegehungsstil zur Folge: Erstbegeher würden Ringe so schlagen, dass sie gut einzuhängen sind (das kann trotzdem bedeuten, daß sie ordentliche Abstände haben).
Auch würden sie überlegen, ob statt einer schwierig anzubringenden (und möglicherweise unsicheren) Knotenschlinge nicht vielleicht noch ein Ring geschlagen werden sollte.
So entstünden unter Umständen zwar keine regelgetreuen Wege, aber es wären Wege, die dem Kern der sächsischen Tradition vielleicht sogar näher kämen.
Und - um den Gedanken weiterzuspinnen - angenommen, hohe Schwierigkeit und gute Absicherung eines solchen neuen Weges würden Kletterer aus aller Herren Länder anziehen, darunter fänden sich sicher einige, die sich auch für klassische Wege interessieren würden: Der Ruf des sächsischen Kletterns würde wachsen und nicht schwinden. Schließlich kann auch gefragt werden, ob in Einzelfällen ein Einrichten von oben zu befürworten ist.
Natürlich: Wer entscheidet den Einzelfall?
Ideal wäre es, wenn dem ein breiter Meinungsaustausch voranginge - doch der findet bei den Kletterern nicht statt (nicht nur in Sachsen), auch wenn die Kletterwege allen und niemandem gehören.
Ist andererseits etwas damit gewonnen, diese Möglichkeit grundsätzlich zu verbiete? Das »Unmöglich« wird dadurch ja nicht gemordet: Es steckt in der Kletterbarkeit des Weges, nicht in den Ringen.
Auch hier kann jedenfalls auf das Beispiel anderer Klettergebiete verwiesen werden, wo beide Stile (faktisch, wenn auch nicht immer harmonisch) nebeneinander bestehen.
Schließlich die Frage nach den Massivwänden.
Aus Naturschutzgründen alle Massive zu sperren, gleichzeitig aber alle Gipfel dem Klettern zu öffnen, kann weder die Naturschützer noch die Kletterer letztendlich zufrieden stellen: Der Verlust eines unbedeutenden Gipfels in einem abgelegenen Grund ist für den Kletterer gering, der Gewinn für den Naturschutz hoch.
Umgekehrt verhält es sich bei Massivwänden in touristisch stark frequentierten Regionen.
Bewegung in dieser Frage könnte zu herrlichen neuen Wegen führen, unter Verzicht auf einige schützenswerte Gipfel. Doch besteht natürlich die Gefahr, dass die Kletterer als Gruppe ohne Lobby bei einer Diskussion über Sperrungen und Öffnungen mehr verlieren, als sie gewinnen.
Hier wird viel davon abhängen, inwieweit die Nationalparkverwaltung die Bedeutung des Elbsandsteinkletterns wertzuschätzen weiß. Die sächsische Tradition jedenfalls wird nicht sterben, solange Menschen sie kletternd nachvollziehen. So viel Geschichte ist in diese Felsen geschrieben, dass mit Gelassenheit über Veränderungen nachgedacht werden kann: Die Felsen bieten Raum, um unterschiedlichen Ansprüchen zu genügen, wenn ihn nur auch die Herzen der Menschen bieten!


Martin Schwiersch



Die Spielregeln des Sportkletters


Jeder Sport, der direkt oder indirekt vom Leistungsvergleich lebt und durch ihn vorwärtsgetrieben wird, benötigt objektivierbare Kriterien zum Messen der Leistung sowie klare, durchschaubare Regeln, die den Vergleich ermöglichen. Beim Felsklettern sind es, im Gegensatz zu den meisten anderen Sportarten, jedoch nicht die Funktionäre, die die Regeln festlegen und formulieren, sondern die aktiven Kletterer selbst. Dies macht das Sportklettern so lebendig und erlaubt eine Orientierung des Reglements an der aktuellen Praxis, die nicht vom grünen Tisch aus bestimmt werden kann.
So haben sich im Laufe der vergangenen Jahre beim Sportklettern zahlreiche Gesichtspunkte in den Spielregeln verschoben, neue Prioritäten wurden gesetzt, die durch ihre Praxisnähe und ihre Orientierung am aktuellen Leistungsstand den Leistungssport Felsklettern zu immer neuen Grenzwerten treiben. Die alles umschreibende Brücke zwischen den unterschiedlichen Spiel- und Stilformen schlägt
die Definition des freien Kletterns. Diese Definition beinhaltet auch, dass eine Seillänge stets in einem Zug, also ohne Ausruhen an irgendwelchen Fixpunkten, geklettert werden muß (Sportklettern heute, Güllich und Kubin).

* Anmerkung vom Webmaster


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